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Der Preis eines Schulhefts

 

Der Preis eines Schulhefts

Der Rioja schwenkt sanft im Weinglas, als mein Vater Francesco – für mich immer noch mein Papi – einen nachdenklichen Schluck nimmt. Wir sitzen im warmen Licht unseres Wohnzimmers, das Mittagessen bereits beendet, als ich ihn bitte, mir wieder diese eine Geschichte zu erzählen. Die Geschichte vom Schulheft, seiner Mutter und den Oliven.

Seine Augen werden weich, als er sich zurückerinnert an jene Tage im Herbst 1949, also Schuljahrgang  1949-1950, in der Nachkriegszeit, als Armut noch ein ständiger Begleiter war.
Besonders in Montescaglioso, unserem kleinen süditalienischen Bergdorf, wo die Menschen noch ein bisschen ärmer waren als anderswo.

Francesco erzählt:

Mein Lehrer war ein strenger, aber gerechter Mann.

Professor Pietro Conduzzi musterte mich jeden Morgen beim Appell mit diesem missbilligenden Blick. Nicht weil ich zu jener Hälfte der Klasse gehörte, die sich keine Schuluniform leisten konnte – nein, sein Blick galt meinen leeren Händen. Keine Bleistifte, kein Radiergummi, keine Schulhefte. Einfach nichts.

Ende Oktober wurde es Professor Conduzzi zu viel. "Am Montag will ich dich mit Bleistift, Radiergummi und Schreibhefte in der Klasse sehen, verstanden Francesco?" Die Worte des Lehrers hallten noch in meinen Ohren, als ich meiner Mutter davon erzählte.

Francesco weiter: Meine Mutter – deine Nonna – war eine Frau der Tat. Kein langes Überlegen, kein Klagen über unsere Armut. Sie griff nach einem alten Sack, nahm meine kleine Hand in ihre Arbeiteraue und sagte nur: 'Komm, ich brauche deine Hilfe.'"

Francesco leicht emotional bewegt: Wir stiegen den Hügel hinab, auf dem Montescaglioso wie so viele süditalienische Dörfer thront. Sechs Kilometer wanderten wir, bis wir die Gegend erreichten, die die Einheimischen "Lucito" nennen. Dort, zwischen den Olivenbäumen, öffnete meine Mutter die Tasche. "Francesco, schnell, hilf mir", flüsterte sie, während wir begannen, die Oliven aufzusammeln. Wir nahmen die Früchte eines entfernten Verwandten, alles ganz schnell.
...Was eine Mutter nicht alles macht, um ihrem Sohn ein Schulheft zu ermöglichen.

An dieser Stelle unseres Gesprächs gesellt sich meine Schwester Paola zu uns. "Müssen wir uns jetzt jede Woche eine Geschichte von früher anhören?", fragt sie mit einem Lächeln, das ihre eigene Zuneigung zu diesen Erinnerungen verrät.

Mein Vater wischt sich verstohlen eine kleine Träne aus dem Augenwinkel. "Es ist unglaublich, was Mütter alles tun, um ihren Kindern eine Zukunft zu ermöglichen", sagt er leise. "Zwanzig Kilo Oliven für ein Heft, einen Radiergummi und einen Bleistift."

Francesco weiter: Stolz ging ich am nächsten Montag zur Schule, die Utensilien fest unter den Arm geklemmt – einen Schulranzen wie die anderen Kinder besaß ich ja nicht. Wir waren einfach zu arm dafür.

"Seneca sagte einst, man lerne nicht für die Schule, sondern fürs Leben. Aber manchmal", fügt er mit einem wissenden Lächeln hinzu, "lernt man die wichtigsten Lektionen nicht im Klassenzimmer, sondern unter einem Olivenbaum."

Ki Bild: Nachkriegszeit, Montescaglioso, nicht weit von Matera, um 1949


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